Dr. Gerhard Grüner

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Strafverteidigung als Prozessuale Gegenmacht

Das Ordnungswidrigkeitenrecht und das Strafrecht umfassen den Rechtsbereich, in dem der Staat gegen Bürger mit dem Ziel ermittelt, entweder Sanktionen, von Geldbußen im Ordnungswidrigkeitenrecht über Geldstrafen im Strafrecht bis hin zu strafrechtlichen Freiheitsstrafen, zu verhängen, oder die fehlende Verantwortlichkeit des Betroffenen (des sog. Beschuldigten) festzustellen.
Letzteres ist übrigens in ca. 45 % der Ermittlungsverfahren der Fall, so dass es in diesen Fällen erst gar nicht zu einer gerichtlichen Befassung mit der Strafsache kommt. Die Sache endet dann vielmehr mit einer Einstellung des Verfahrens durch die Anklagebehörde, in der Regel die Staatsanwaltschaft, oder eine Strafverfolgungsbehörde in Spezialzuständigkeit, wie etwa die Strafsachen- und Bußgeldstellen der Finanzämter.

Die Besonderheit des strafrechtlichen Verfahrens besteht darin, dass der ein oder andere Beschuldigte neben der eigentlichen Auseinandersetzung mit der vorgeworfenen Straftat und der damit ohnehin schon einhergehenden enormen psychischen Belastung zusätzlich im Frühstadium des Ermittlungsverfahrens seine Hilflosigkeit gegenüber dem mit enormen Eingriffsbefugnissen ausgestatteten staatlichen Strafverfolgungspparat am eigenen Leibe, Besitz oder Eigentum erfährt, von Durchsuchungen und Beschlagnahmen über vorläufige Festnahmen bis hin zur Verhängung von Untersuchungshaft.

Vor diesem Hintergrund liegt für den
Strafverteidiger die Versuchung nahe, dem Mandanten glauben zu machen, die gleichsam dunklen Mächte staatlicher Strafverfolgung folgten eigenen und ungeschriebenen Gesetzen. Nicht nur  aufgrund überlegenen Fachwissens und forensischer Erfahrung, sondern auch wegen des persönlichen Respektes der jeweils auf der Gegenseite tätigen Staatsanwälte, Steuerfahnder, Richter und Oberrichter vor gerade diesem Strafverteidiger sei er (oder sie) in der Lage, dem staatlichen Verfolgungsapparat mit Erfolg entgegenzutreten. 
Derartigen Vorstellungen sollte der Mandant mit gesunder Skepsis entgegentreten. Denn die Struktur des Inquisitionsprozesses mit der gesetzlich angelegten Dominanz der Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens und des Gerichtes in der Hauptverhandlung, die sich durch jahrhundertelange Übung in den Köpfen der Justizjuristen verfestigt hat, auch nachdem der Beschuldigte zum Subjekt des Verfahrens erhoben worden ist, schließt eine solche prozessual-psychologische Gegenmacht des Verteidigers in Wahrheit regelmäßig aus. Abgesehen davon wird die konsequente Interessenvertretung für den Mandanten schon durch den Schein des Verdachtes in Frage gestellt, der Verteidiger sei gegenüber der Gegenseite nach Art einer Gefälligkeitsbank in ein System von Geben und Nehmen verstrickt, das vielleicht gerade in diesem Fall zum Nachteil des Mandanten ausfallen kann.
Geschürt werden derartige Überhöhungen der Strafverteidigung von einem –nicht selten durch Strafverteidigervereinigungen geschickt eingesetzten- Medienapparat.  So wird dem Bürger mitunter unter dem Schein der Seriosität zu vermitteln versucht, ohne die Beauftragung einer Gruppe von wahlweise illustren, elitären, unnahbaren, leidenschaftlichen, jedenfalls immer handverlesenen Spezialisten sei der Bürger den Unwägbarkeiten des staatlichen Apparates hilflos ausgeliefert.

Derartige Publikationen nehmen z.T. schon skurrile Ausmaße an, wenn etwa das
Handelsblatt in einem Artikel aus dem Jahre 2010 die Situation beschreibt, wie eine bundesweit renommierte Strafverteidigerin zusammen mit den Vorstandsmanagern in dem Hochhaus-Büro eines deutschen Groß-Konzerns schweigend in gelähmter Stimmung auf die Rückkehr des Vorstandsvorsitzenden wartet, der gerade in der Stadt von der Staatsanwaltschaft verhört wird.
(http://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-dienstleister/strafverteidigerin-renate-verjans-die-robe-bleibt-im-schrank/3467210.html).
Verdeutlicht wird dadurch nicht wie gewollt die Wichtigkeit der Teilnahme der Strafverteidigerin an der Sitzung, sondern die offensichtlich irrationale Erwartung hochrangiger Geschäftsleute, die prozessual nutzlose Inanspruchnahme anwaltlichen Beistandes außerhalb einer wichtigen Vernehmung, bei der anwaltlicher Beistand allerdings tatsächlich unverzichtbar und einforderbar wäre, könne auf die staatsanwaltlichen Ermittlungen irgendeinen Einfluss haben.

Löst man sich von solchen Wirrungen, aus denen sich auch der dramatische Anstieg der Verteidigerhonorare in den letzten Jahren erklären lässt, wie sie insbesondere im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts verlangt und gezahlt werden, so lässt sich die Aufgabe des Verteidigers im Strafprozeß wie folgt strukturieren:
Der Strafprozeß funktioniert vom Anfang des Ermittlungsverfahrens bis zum Strafurteil auf der Grundlage der Amtsaufklärungspflicht. Das heißt nichts anderes, als dass der Beschuldigte bis zum Strafurteil materiell durch die Staatsanwaltschaft und das Gericht verteidigt sein sollte, die unparteilich agieren. Das ist die für den Beschuldigten positive Kehrseite der enormen Eingriffsbefugnisse, mit denen der staatliche Strafverfolgungsapparat ausgestattet ist. Die Staatsanwaltschaften und Gerichte ermitteln aber nur solange unparteilich, bis sie in ihrer Sachaufklärung zu einer Sacheinschätzung gelangen, die sie automatisch zur Partei werden lässt. Das geschieht in den Fällen, in denen es nicht zu einer Verfahrenseinstellung zugunsten des Beschuldigten kommt, nicht erst durch die Erhebung  der Anklage oder die Eröffnung eines gerichtlichen Verfahrens, sondern meist schon vorher durch interne Festlegungen des Strafverfolgungsapparates.

An dieser Stelle setzt der Prozeßzweck der Verteidigung als prozessuale Gegenmacht ein, die nur die Interessen des Beschuldigten verfolgt. Die Strafverteidigung ist eine rechtliche und keine moralische Einrichtung; ihr ausschließlicher Zweck besteht darin, im Rahmen der rechtlich zulässigen Handlungsoptionen dem angestrebten Ergebnis so nahe zu kommen wie nur möglich. Der Zeitpunkt des sinnvollen Einsetzens dieser prozessualen Gegenmacht kann nicht früh genug verortet werden. Selbst wenn die staatlichen Stellen noch neutral ermitteln, ist die Strafverteidigung aus präventiven Gründen insbesondere in komplexen Verfahren unbedingt erforderlich, allein schon um vorschnelle Festlegungen zu Lasten des Mandanten und eine dadurch verursachte einseitig gegen den Mandanten gerichtete Ermittlungstätigkeit mit dem Ergebnis einer Vorverurteilung zu vermeiden.
Der Verteidiger ist per Gesetz der Beistand des Beschuldigten, nicht dessen Vertreter. Der Verteidiger steht daher als sog. Prozeßsubjektsgehilfe neben dem Mandanten, er ersetzt dessen Erklärungen nicht, wie es etwa im Zivilprozeß der Fall ist. Damit setzt Verteidigung in erster Linie einen mündigen Mandanten voraus, der bereit ist, sich mit dem gegen ihn gerichteten Verfahren mit Hilfe seines Verteidigers umfassend und in alle rechtlichen Richtungen auseinanderzusetzen.

Folgerichtig hat der deutsche Gesetzgeber, wenn auch erst auf Druck der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zum Recht auf strafprozessuale Selbstverteidigung, dem Beschuldigten ein eigenes Akteneinsichtsrecht bei der jeweiligen Strafverfolgungsbehörde im vergleichbaren Maße wie dem Verteidiger selbst eingeräumt und damit die unwürdige Vorstellung beseitigt, der betroffene Bürger dürfe sich nur über die Vermittlung einer dritten Person, des Verteidigers, über den Tatvorwurf informieren.
Grundlage des Mandatsverhältnisses ist somit ein Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Mandant auf Augenhöhe, in dem der Verteidiger als rechtskundiger und unbefangener Berater, nicht aber als Prozessbetreuer des Beschuldigten fungiert.
Dies ist speziell in Verfahren von Bedeutung, denen wirtschaftliche Zusammenhänge zugrunde liegen, deren spezifische Sachverhalte den Diskurs mit dem Beschuldigten zur Erstellung des Verteidigungskonzepts voraussetzen.  Der Verteidiger muß an dieser entscheidenden Nahtstelle in der Lage sein, sich auf den Sachverhalt des Mandanten einzulassen, die strafprozessualen Verträglichkeiten und Unverträglichkeiten der subjektiven Sicht des Beschuldigten zu analysieren, diese subjektive Sicht mit sachgerechten Alternativen zu vernetzen bzw. auszubauen und nach außen zu vertreten.

Davon ausgehend sind die Ziele des Verteidigungsauftrages sowohl innerhalb des Strafverfahrens selbst wie auch hinsichtlich außerstrafrechtlicher Nebenfolgen einvernehmlich, umfassend und sorgfältig zu definieren.
Da der Verteidigerauftrag  von den vielen tatsächlichen Einzelheiten des jeweiligen Falles und deren rechtlicher Auswirkung in jede Richtung abhängig ist -das kann neben der immer erforderlichen Aufarbeitung und Analyse des Sachverhaltes in präziser unspektakulärer Akten- und Besprechungstätigkeit des Verteidigers in geeigneten Fällen durchaus auch bis zu einer bewusst pointierten verbalen Auseinandersetzung mit Gericht, Staatsanwaltschaft oder Medien reichen, oder auch umgekehrt der Zusammenarbeit der Verteidigung mit den Medien- sollen an dieser Stelle nur die wesentlichen Leitlinien der Verteidigung skizziert werden.

Eine Einlassung der Verteidigung, erst recht in Form einer persönlichen Einlassung des Mandanten, was eher die Ausnahme als die Regel sein wird, erfolgt erst, wenn eine Augenhöhe mit der Gegenseite erreicht ist. Dazu gehört namentlich die Analyse der Verfahrensakte sowie im Einzelfall auch die Durchführung eigener Ermittlungen. Wie ich es in meiner Tätigkeit als Justiziar des Bundes Internationaler Detektive (BID) verschiedentlich wahrgenommen habe, besteht hier die seltene Möglichkeit eines Handlungsvorsprungs vor den Ermittlungsbehörden.

Die Verteidigung erfolgt in aller Regel so früh wie möglich, d.h. im Ermittlungsverfahren und dort in aller Regel in schriftlicher Form, um den jeweiligen Standpunkt aktensicher zu dokumentieren. Die Hauptverhandlung ist, abgesehen von den Stigmatisierungen und wirtschaftlichen Verwerfungen, die eine öffentliche Hauptverhandlung mit sich bringen kann, ein Ort der Reduktion von Komplexität, d.h. schwierige Sachverhalte können dort der Gegenseite  nicht eingängig vermittelt werden.
Darüber hinaus besteht gegen strafgerichtliche Urteile nur ein sehr eingeschränkter Rechtsschutz; Berufungen sind nur lückenhaft gegen amtsrichterliche Entscheidungen möglich, und tragen die Rechtsunsicherheit der völligen Neudurchführung der Hauptverhandlung ohne ein Präjudiz des ersten Urteils in sich; die Berufung taugt im wesentlichen nur zur Realisierung von Strafmaßabsprachen unter Mitwirkung eines erfahrenen Berufungsrichters.
Die strafrechtliche Revision bietet aufgrund des historisch bedingten Verbots der Sachverhaltskonstruktion Schutz gegen Fehler der gerichtlichen Beweiswürdigung nur in Fällen evident unrichtiger Tatsachenfeststellungen, also in Ausnahmefällen. Die sog. Verfahrensrügen, also die Rüge von Verfahrensverstößen des Gerichtes in der Hauptverhandlung, bleiben aufgrund einer bewusst restriktiven Rechtsprechung der Revisionsgerichte, die insbesondere zunehmend die vorherige Reklamation des Fehlers in der Hauptverhandlung durch den Verteidiger verlangt, häufig erfolglos.
Die Durchbrechung der Rechtskraft strafgerichtlicher Entscheidungen, das unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung des gefundenen Rechtsfriedens einen hervorgehobenen Rang einnimmt, durch die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Angeklagten erfordert hauptsächlich die Präsentierung neuer Beweismittel, deren Auswertung in Ansehung der im Urteil verwendeten Beweismittel geeignet sind, eine Korrektur des Urteils herbeizuführen. Statistisch führt eine solche "Berufung nach Rechtskraft" noch seltener als die Revision zum Erfolg, weil nicht nur das rechtskräftige Urteil selbst, sondern auch dessen Begründung faktisch einen hohen Rang genießt. Die rechtskräftige tatrichterliche Beweiswürdigung wird nur in Evidenzfällen einer erneuten erweiterten Betrachtung unterworfen, was Grundlage der häufig beklagten Blockadehaltung der neu befassten Gerichte sein dürfte.
Ein verfassungsrechtlicher Rechtsschutz, auch in Form der Einschaltung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes, besteht unabhängig von den enormen Laufzeiten dieser Verfahren gegen strafrichterliche Urteile faktisch nicht. Die statistische Erfolgswahrscheinlichkeit solcher Beschwerden ist verschwindend gering.
Das Ziel der Verteidigung im Ermittlungsverfahren ist vor diesem Hintergrund, wenn nicht ausnahmsweise sachliche Gründe zur gegenteiligen Entscheidung führen, die Vermeidung der Hauptverhandlung, oder aber zumindest die Vorprägung der Entscheidung, die in der Hauptverhandlung zu treffen ist.

Sollte es zur Hauptverhandlung kommen, so besteht die zentrale Aufgabe des Strafverteidigers darin, die Sachleitung des Gerichtes in der Hauptverhandlung durch die prozessuale Gegenmacht der Verteidigung zu ergänzen, indem das Gericht in die Richtung gelenkt wird, in der aus Sicht des Verteidigers eine Sachaufklärung stattzufinden hat.
An dieser Stelle ist der Mandant oft hilflos, da die Formulierung von Beweisanträgen oder sonstigen prozeßfördernden Erklärungen häufig in technisierter bzw. formalisierter Form zu erfolgen haben, unter Beherrschung des prozeßrechtlich vorgegebenen Handwerks. Aber auch hier gilt weiterhin, dass alle Maßnahmen des Verteidigers im Konsens mit dem Mandanten zu erfolgen haben.
Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass gerade in wirtschaftsrechtlichen Zusammenhängen sich Vernetzungen mit außerstrafrechtlichen Fragen ergeben, die in das Verteidigungskonzept einzustellen sind.
Das heißt aber nicht, entgegen landläufig vertretener Auffassung sog. Spezialisten und entgegen häufiger Übung, dass die nichtstrafrechtlichen Fragen in einem Ausmaß outgesourct werden, dass die Entscheidung nicht mehr im Innenverhältnis von Mandant und Verteidiger, sondern in einer Art Fachgremium fallen. Der Verteidiger muß selbst stets soweit in außerstrafrechtliche Fragen eingearbeitet sein, dass ein Diskurs auch insoweit im Verteidigungsinnenverhältnis stattfinden kann.

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